Die Lady und der Spion:
Leseprobe

Gelungener Debütroman mit unerwarteten Wendungen, den ich sehr empfehlen kann.

Prolog

Sonntag, 12. Juni 1887

Er spürte sie hinter sich. Noch konnte er sie nicht sehen, doch er war sich ihrer Anwesenheit nur zu deutlich bewusst. Jahrelange Erfahrung hatte ihn gelehrt, seinem Instinkt zu vertrauen. Er vermochte nicht zu sagen, was sein Misstrauen geweckt hatte – der wütende Ruf eines Eichelhähers, ein Schwarm Krähen, der sich heiser krächzend in die Lüfte erhob, oder der schwache, aber unverkennbare Geruch einer Feuerstelle –, er wusste nur, dass er sich nicht irrte.

Sein Ziel lag noch viele Tagesreisen vor ihm und die tiefen Wälder, die ihn vor neugierigen Augen verbargen, nannten so manches Geheimnis ihr Eigen. Dennoch war er froh, dass er die Weite der schottischen Moore hinter sich gelassen hatte. Ein einzelner Reisender zu Pferd zog stets Aufmerksamkeit auf sich und er konnte nicht riskieren, von seinen Verfolgern entdeckt zu werden.

Wo immer es ging, lockerte er die Zügel, um dem widerspenstigen Rappen einige Meilen freien Lauf zu lassen, doch meist waren die Wege zu abschüssig und er musste sein Tier schonen. Und er musste Umwege machen, Siedlungen meiden und falsche Fährten legen. An manchen Tagen schaffte er so kaum zwanzig Meilen und hoffte wider jede Vernunft, dass seine Verfolger ebenfalls nur langsam vorankamen.

Der Brief in seiner Brusttasche fühlte sich glühend heiß an. Er kam einem Preis gleich, der auf seinen Kopf ausgesetzt war. Doch das war das Wesen seiner Arbeit. Nur ein Narr hätte das bestritten. Und Raphael war vieles, aber ein Narr war er nicht.

Er wischte sich das dunkle Haar aus dem Gesicht und öffnete den obersten Knopf seines Hemds. Der Wind strich mit klammen Fingern über seine Haut, doch er hieß die Kühle des Morgens willkommen. Sie würde seine Sinne nach der durchwachten Nacht schärfen.

Sie würde ihm helfen, am Leben zu bleiben.

*

Lily

Neun Monate zuvor, Freitag, 17. September 1886

Lily ließ einen Finger über die schwarzen und weißen Tasten gleiten. Die Klaviatur aus Elfenbein und Ebenholz fühlte sich unter ihren Händen glatt und verheißungsvoll an. Vielleicht könnte sie ein paar Töne spielen, ohne dass Mrs Murton sie hörte … Aber nein, das wäre albern. Mrs Murton hatte Ohren wie ein Luchs und ihr wäre sicher nicht entgangen, dass Lily ihre Zeit damit verbrachte, auf dem Klavier zu »klimpern«, anstatt den Salon auf Hochglanz zu bringen. Unwillkürlich entwich Lily ein Seufzen. Sanft berührte sie die glänzenden Tasten, ohne sie herunterzudrücken. Wenn sie ihre Fingerfertigkeit am Klavier nicht probte, würde sie die Übung verlieren. Und ihre wöchentliche Klavierstunde mit Mrs Badger war noch so lange hin.

In ihrer Erinnerung war Lily wieder drei Jahre alt und konnte gerade so auf den Klavierhocker klettern. Der Duft von Lilien und Rosenblüten drang ihr in die Nase und sie blickte in das strahlende Gesicht ihrer Mutter.

Lily hielt die Augen geschlossen und ein Lächeln umspielte ihre Lippen. Dann zuckte sie zusammen. Ein Moll-Akkord erfüllte den Raum. Sie hatte vergessen, wo sie sich befand, und ihre Hände hatten wie von selbst zu spielen begonnen. Hoffentlich hatte der alte Hausdrache nichts gehört. Hastig raffte sie ihre Röcke und sprang auf. Eimer, Besen und Kutterschaufel lagen noch immer unberührt auf dem Boden des Salons. Sie ging vor dem Kamin in die Hocke und fing an, Aschereste von dem glänzenden Fischgrätparkett zu fegen. Es entsprach eigentlich nicht ihrem Stand, auf Knien herumzurutschen und Schmutz zusammenzukehren. Andererseits musste sie froh sein, überhaupt eine Bleibe zu haben. Ihr Onkel und einziger noch lebender Verwandter, der berühmte Professor Wheatley, hatte ihr angeboten, nach dem Ende ihrer Ausbildung im Internat zu ihm zu kommen.

Lily steckte sich eine Haarsträhne hinters Ohr und kniff die Augen zusammen, als ihr Staub und Asche ins Gesicht wirbelten. Kein Wunder, dass der Drache ihr diese unangenehme Aufgabe zugewiesen hatte.

»Elizabeth«, schallte Mrs Murtons herrische Stimme durch das Haus. Professor Wheatleys Wirtschafterin war wie üblich schlecht gelaunt und ihr schriller Tonfall verhieß nichts Gutes.

Seit beinahe dreißig Jahren führte sie dem zerstreuten Professor mit eiserner Hand den Haushalt. Lilys Ankunft hatte sie lediglich mit geschürzten Lippen und einer hochgezogenen Augenbraue quittiert, und Lily war schnell klar geworden, dass sie sich gut mit ihr stellen musste, wenn sie im Haus ihres Onkels bleiben wollte.

Während ihr Onkel die meisten Stunden des Tages in seinem Studierzimmer verbrachte und über Büchern brütete, musste Lily ausgestopfte Tierköpfe abstauben, das Parkett fegen, die schweren Kohleeimer schleppen und die Perserteppiche ausklopfen.

Es gäbe weit weniger zu tun, wenn Mrs Murton nicht alle Haushaltshilfen vergrault hätte, die es gewagt hatten, einen Fuß in dieses Haus zu setzen, dachte sie grimmig.

»Elizabeth!«

Lily warf einen letzten wehmütigen Blick auf den imposanten schwarzen Bechstein-Flügel und wischte mit ihrem grauen Schürzenzipfel einen Rußfleck von einer Taste, dann öffnete sie eilig die Tür und rannte den Gang hinunter.

Mrs Murton wartete bereits ungeduldig vor dem Morgensalon und scheuchte sie hinein.

»Es tut mir leid, Mrs Murton«, begann Lily außer Atem, aber die Haushälterin fuchtelte ungehalten mit der Hand, um sie zu unterbrechen. »Kindchen, komm näher, aber rühr mit deinen rußigen Fingern bloß nichts an.«

Anscheinend wollte Mrs Murton sie diesmal nicht schelten. Stattdessen hielt sie eine grün und golden schimmernde Stoffbahn in die Höhe.

»Was ist das?«

Mrs Murton seufzte. »Nun frag nicht so dumm, Kindchen. Das wird dein Ballkleid.«

»Ein Ballkleid? Für mich?« Lily verstand nicht.

»Na hör mal, Kleine, denkst du etwa, das soll meine neue Schürze werden?« Sie lachte gackernd. »Nein, das hier ist für dich.«

Lily konnte nicht anders, sie fuhr mit den Händen sanft über den glatten, gemusterten Stoff, der sich unter ihrer Haut anfühlte wie kühles Quellwasser.

»Finger weg«, knurrte Mrs Murton und zog ihn hastig weg. »Wir wollen schließlich nicht, dass du die gute Seide ruinierst. Du wäschst dir die Hände und dann läufst du damit ins Dorf zur Schneiderin. Sie soll gleich Maß nehmen. Sag ihr, dass das Kleid bis zum Ball von Reddington Manor fertig sein muss. Die passende Turnüre soll sie aus London bestellen und für den Unterrock kann sie einen deiner alten Röcke abändern.«

Von dem alljährlichen Winterball auf Reddington Manor sprachen alle jungen Frauen in Glensdale schon seit Wochen. Diejenigen, die eine der begehrten Einladungen erhalten hatten, verbrachten den ganzen Herbst mit den Vorbereitungen – und die anderen machten das wieder wett, indem sie immer neue Gerüchte über den Ball in Umlauf brachten.

Lily hatte zu den Glücklichen gehört, die im August einen der burgunderroten Briefe bekommen hatten, aber Mrs Murton hatte ihn sogleich konfisziert und Lily hatte sich erst gar keine Hoffnungen auf eine Teilnahme gemacht.

»Lass dir diesen Luxus, mit dem dein Onkel dich verwöhnt, ja nicht zu Kopf steigen«, mahnte Mrs Murton und Lily gab sich Mühe, ihr aufgeregtes Lächeln zu unterdrücken.

»Du darfst nur auf den Ball, damit sich ein Ehemann für dich findet. Dein Onkel hat nämlich nicht vor, dein hungriges Maul ewig zu verköstigen. Bis zum Frühjahr musst du unter der Haube sein, dafür sorge ich notfalls selbst.«

Mit diesen resoluten Worten wickelte Mrs Murton den Damast wieder sorgfältig ein und scheuchte Lily in die Waschküche, um sich den Ruß von den Händen zu schrubben.

»Und dass du ja nicht bei dieser Harriet vorbeischaust, hörst du? Ich will, dass du ohne Umwege wieder nach Hause kommst.«

*

Lily

Ein ohrenbetäubendes Kreischen schallte durch das große Haus der Familie Maye. Lachend schlug Lily sich die Hände vor die Ohren.

»Du kommst mit auf den Ba-hall, du kommst mit auf den Ba-hall!«, quietschte Harriet vergnügt, ohne ihren Freudentanz durch den Salon zu unterbrechen.

»Ich kann nicht glauben, dass die alte Schreckschraube mir erlaubt, den Winterball zu besuchen«, seufzte Lily.

»Ich wollte es dir nicht sagen«, trällerte Harriet, »für den Fall, dass dein Onkel es nicht gestattet hätte. Aber ich habe meiner Mutter in den Ohren gelegen, dass du unbedingt mit auf den Ball kommen musst. Also hat sie eurem Hausdrachen den Floh ins Ohr gesetzt, dass es deinen Heiratsaussichten guttun würde – denn wer will schon eine mittellose Verwandte bis ans Ende seiner Tage durchfüttern? Der Drache war Feuer und Flamme für diese Idee. Ich nehme an, sie hat deinem Onkel Beine gemacht.«

»Das erklärt einiges.« Lily verdrehte die Augen. »Sie hat ausdrücklich betont, dass ich mich nicht amüsieren, sondern die Aufmerksamkeit eines respektablen Heiratskandidaten auf mich ziehen soll. Harriet, ich weiß nicht, was ich davon halten soll. Ich fühle mich noch nicht bereit zum Heiraten.«

Harriet unterbrach ihre Hopserei, die sich wegen ihres modischen Rocks, der wenig Bewegungsfreiheit zuließ, ohnehin als schwierig gestaltete. »Aber du willst doch sicher bald das Haus deines Onkels verlassen und deinen eigenen Haushalt führen, ohne diesen schrecklichen Drachen?«

»Ja natürlich, aber was, wenn mich auf dem Ball keiner zum Tanz bittet? Oder zumindest keiner, der mir gefällt? Im Internat haben sie uns auf solche Anlässe nicht vorbereitet.«

»Papperlapapp«, sagte Harriet und legte ihrer Freundin eine Hand auf den Arm. »Der Ball wird wundervoll, du wirst schon sehen. Ich für meinen Teil habe ein Auge auf Algernon geworfen.«

»Algernon? Meinst du etwa Mr Stockwith, den Apotheker?«

»Kennen wir denn sonst noch einen Mr Stockwith?« Harriet kicherte.

»Aber er ist so viel älter als du. Und ich habe ihn noch nie lachen sehen. Bist du sicher, dass du den Rest deines Lebens mit ihm verbringen willst?«

»Oh, Lil, manchmal bist du erschreckend weltfremd.« Als sie Lilys zweifelnden Gesichtsausdruck bemerkte, fügte Harriet hinzu: »Sieh dir meine Mutter an, Lil. Sie ist einsam, seit Vater gestorben ist. Wenn ich nicht da bin, ist das Haus leer und still. Sobald Algie und ich verheiratet sind, wird er seine winzige Wohnung über der Apotheke verlassen und hier einziehen. Ich werde Kinder bekommen, Lil. Viele Enkelkinder, die im Haus erst gar keine Stille aufkommen lassen.«

Ihre Stimme hatte einen träumerischen Tonfall angenommen. »Weißt du, wenn ich an der Apotheke vorbeigehe, sehe ich ihn durch die Fensterscheibe. Er sieht einsam aus. Als würde er auf etwas warten, aber jeden Tag ein wenig mehr die Hoffnung aufgeben, dass er es findet. Und jeden Tag lächle ich ihm zu und er erwidert mein Lächeln. Algie wird ein guter Ehemann sein, ich weiß es einfach.«

Lily sah ihre Freundin an. Sie saß in dem warmen, gemütlichen Salon zwischen bestickten Samtkissen auf dem Sofa und hatte eine Hand so selbstbewusst auf die Armlehne gelegt, als wäre sie die Herrin eines großen, althergebrachten Anwesens und nicht die Tochter eines Fabrikanten von ehrbarem, aber nicht übermäßigem Wohlstand. Harriet hatte einen so starken Willen, dass die Wirklichkeit bisweilen keine andere Wahl hatte, als sich ihr unterzuordnen. Wenn sie sich in den Kopf gesetzt hatte, den Apotheker zu heiraten, würde sie das auch tun.

Lily spürte einen kleinen Stich – keine Eifersucht, aber eine schmerzhafte Wehmut. Wenn ich wenigstens ab und zu so zuversichtlich sein könnte wie Harriet.

Sie holte tief Luft. »Ich muss dir etwas erzählen.«

»Ja?« Harriet bot ihr eine Schale mit kandierten Früchten an und Lily griff zu. Bei Mrs Murton wurde jeder Gang in die Speisekammer zum Abenteuer, denn der alte Drache hütete die Leckereien darin wie einen Schatz.

Noch während sie kaute, sprach Lily hastig weiter, bevor sie es sich anders überlegen konnte. »Ich habe Angst, Harriet. Was, wenn ich gezwungen werde, jemanden zu heiraten, den ich nicht mag? Eigentlich gefällt mir der Gedanke, einen eigenen Haushalt zu führen, aber was die Sache mit dem passenden Ehemann angeht …« Sie verschränkte die Arme.

»Am liebsten würde ich auf das Heiraten verzichten und eine berühmte Musikerin oder Schauspielerin werden, wie Sarah Bernhardt. Im Internat wurde ich für meinen Gesang und mein Klavierspiel immer gelobt.«

Mitfühlend legte Harriet ihr eine Hand auf die Schulter. »Meinst du das ernst? Du spielst und singst zwar sehr schön, aber hör mal, die meisten Künstlerinnen führen nicht gerade einen ehrenhaften Lebenswandel und sind auf einen reichen Gönner angewiesen.«

»Ich weiß, ich weiß«, unterbrach Lily rasch. »Ich habe nur einen Scherz gemacht. Ich meine nur, dass ich mich noch nicht bereit für einen Ehemann fühle.«

»Vielleicht lernst du auf dem Ball ja jemanden kennen, der dir gefällt.«

Lily seufzte und lehnte sich auf ihrem Sessel zurück. »Solange es nicht dieser widerliche Wykeham Trent ist.«

Harriet prustete los. »Ha! Dem würde keine anständige Familie ihre Tochter anvertrauen.« Sie wurde wieder ernst. »Mach dir keine Sorgen, Lil. Es geht schon alles gut, du wirst sehen.«

Lily nickte, aber insgeheim zweifelte sie daran. Ein einziger Abend, der über ihr ganzes zukünftiges Leben entscheiden sollte? Das war ein beängstigender Gedanke, den sie weit von sich schob.

Doch sie wurde das beklemmende Gefühl nicht los, in eine Schlinge getreten zu sein, die sich immer weiter zuzog, je stärker sie dagegen ankämpfte.

*

Lily

Dienstag, 9. November 1886

Der Winter war in diesem Jahr früh gekommen. Nach einem langen Spätsommer und einem verregneten Herbst war die Kälte urplötzlich über das Land hereingebrochen.

Für Lily war es eine herrliche Zeit. Mrs Murton trug ihr immer noch die unliebsamen Arbeiten auf, aber Lily fand stets neue Gründe, das Haus zu verlassen. Mal war der Zucker unerklärlicherweise ausgegangen, was einen Ausflug zum Krämer unabdingbar machte, dann wieder fand eine Anprobe bei der Schneiderin statt oder sie und Harriet nahmen bei einer Nachbarin Tanzstunden, damit sie sich auf dem Ball nicht blamierten. Dazu kam der Klavier- und Gesangsunterricht bei Mrs Badger, die Lily nun zweimal in der Woche besuchen durfte, nachdem sie ihren Onkel bei seiner Geburtstagsfeier mit einem Ständchen am Klavier zu Tränen gerührt hatte.

»Du solltest über eine Laufbahn bei der Oper oder am Theater nachdenken«, hatte Professor Wheatley begeistert verkündet, was Lily überaus gefreut hatte, und das nicht nur, weil Mrs Murton dabei puterrot angelaufen war.

Und die ganze Zeit über lag ein erwartungsvolles Knistern in der Luft, eine Vorahnung, die die Hitze des Spätsommers und die grauen Regentage des Herbstes überstanden hatte und nun beim Anblick der tanzenden Schneeflocken immer größer und verheißungsvoller wurde: Der Winterball auf Reddington Manor.

Lily lief durch die verschneiten Gassen und bei jedem ihrer Schritte stieg eine kleine weiße Wolke in die Luft. Über dem Dorf lag die besondere Ruhe eines Wintertags, wenn der Schnee alle Geräusche dämpft. In dieser andächtigen Stille waren die Schritte hinter ihr kaum hörbar, aber doch laut genug, dass sie sich umdrehte.

Da war niemand.

Die Gasse, die hinter dem gedrungenen Steinhaus der Bäckerei eine kleine Biegung um eine Lagerscheune machte, war menschenleer. Die krummen Giebel der umliegenden alten Gebäude schienen sich einander verschwörerisch zuzuneigen. Vor dem weißen Kontrast des Schnees blickten die dunklen Fensterluken wie missbilligende Augen auf sie herab. Es fühlte sich an, als wäre sie allein auf der Welt.

Nun ja, nicht ganz allein. Das Knirschen ertönte erneut, bevor es wieder verstummte. Schulterzuckend drehte sie sich um und zog ihr Wolltuch enger um sich, als sie ihren Weg fortsetzte. Sie sog die frische Winterluft tief ein. Sie war kalt und klar, sodass sie beim Atmen beinahe schmerzte, aber Lily war zügig gelaufen und das Blut pochte warm in ihren Adern. Nur ihre Fingerspitzen fühlten sich eisig an, sie würde sie bei Mrs Badger erst eine Weile aufwärmen müssen, bevor sie mit dem Klavierspiel beginnen konnte.

Da war es wieder. Das Knirschen hinter ihr. Aber als Lily sich erneut umdrehte, um nach der Quelle des Geräuschs Ausschau zu halten, war die Gasse noch immer menschenleer. War es ein Tier, das ihr folgte, ein Fuchs, der sich auf der Suche nach Nahrung ins Dorf verirrt hatte? Sie ging den Weg vorsichtig zurück, wobei sie nach Tierspuren Ausschau hielt. Sie spähte nach links, wo sich zwischen zwei Häusern eine schmale Lücke auftat, die von den sich überlagernden Dächern in tiefe Schatten getaucht wurde.

Nichts. Sie atmete aus und ihr Atem bildete kleine weiße Kringel in der Luft. Sie wandte sich um, da schlossen sich mit einem Mal zwei starke Hände um ihre Taille. Lily war zu entsetzt, um sich zu wehren, sie sog die kalte, schmerzende Luft tief ein und öffnete den Mund zu einem Schrei, als eine Stimme dicht an ihrem Ohr flüsterte: »Komm, tanz mit mir, kleines Vögelchen.«

Lily erstarrte mitten in der Bewegung. Sie kannte diese Stimme. Sie hatte sie schon oft gehört, wenn sie mit Harriet über den Wochenmarkt ging. Jetzt klang sie nah und vertraulich, siegesgewiss.

»Zier dich nicht so, meine Süße.«

Der Druck um ihre Taille ließ nach und sie konnte wieder atmen. Mit wild rasendem Herzen fuhr sie herum.

Sein Grinsen war das erste, was sie in der Dunkelheit zwischen den Häusern erblickte, ein silbriger Halbmond aus gebleckten Zähnen, dann schälte sich ein Mann aus der Schwärze. Es war Wykeham Trent.

Er trug seine Soldatenuniform, aber die Tressen waren zerzaust, sein Gürtel saß schief und die Uniformjacke war so knittrig, als hätte er darin geschlafen. Bei genauerer Überlegung lag das durchaus nahe, denn er wirkte übernächtigt und aus der Nähe konnte sie den billigen Schnaps riechen, dem er vermutlich die ganze Nacht über zugesprochen hatte. Hatte er in diesem dunklen Eingang geschlafen, nachdem er betrunken vom Gasthaus nach Hause gewankt war?

»Lassen Sie mich in Ruhe«, sagte sie so würdevoll wie möglich und wandte sich hoch erhobenen Hauptes ab.

Hastig stapfte sie in die entgegengesetzte Richtung. Sie vermied es, sich umzublicken, als könnte sie ihn mit bloßer Willensanstrengung davon abhalten, ihr zu folgen.

Aber sie hatte kein Glück; sie hörte das harte Klackern seiner beschlagenen Stiefelabsätze, das ihr hartnäckig folgte. Nach wenigen Schritten hatte er sie bereits eingeholt. Obwohl er leicht schwankte, schloss er mühelos zu ihr auf.

Sie atmete tief ein und eisige Luft strömte in ihre Lunge.

»Verschwinden Sie«, zischte sie, aber ihr Protest schien ihn nur noch anzuspornen. Er streckte die Hand aus und packte ihr Schultertuch, um sie am Weitergehen zu hindern.

»Nur ein Küsschen für einen armen Soldaten«, sagte er grinsend und ließ den Stoff des Tuches durch seine Finger gleiten.

Lilys anfänglicher Schock war verflogen, nun regte sich Ärger in ihr. Wie konnte er es wagen, ihr in aller Herrgottsfrühe aufzulauern und sie zu bedrängen? Was er nötig hatte, war eine Lektion in guten Manieren.

»Lauf nicht weg, Mädchen.«

Die Wut, die in ihr brodelte, schäumte über. Sie hatte genug davon, sich herumkommandieren zu lassen, nicht von Mrs Murton und erst recht nicht von Wykeham Trent. Mit einem scharfen Ruck entzog sie ihm ihr Schultertuch. Er versuchte, es festzuhalten, wobei er ins Wanken geriet, und als sie sich schwungvoll umdrehte, verlor er auf dem rutschigen Untergrund das Gleichgewicht und stürzte zu Boden.

Lily würdigte ihn keines Blickes und ignorierte seine jämmerlichen Rufe, während er erfolglos versuchte, sich wieder aufzurappeln.

Das würde ihm eine Lehre sein.

*

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