Die Rose und der Earl:
Leseprobe
Prolog
Die spitzen Schatten der Baumwipfel ragten wie Lanzen auf die Lichtung hinaus.
Der Mann, der dort stand, war breitschultrig und sein langes Haar umgab sein Gesicht wie die Mähne eines Löwen. Er hielt die Steinschlosspistole locker in der Hand, seinen Mantel hatte er achtlos beiseitegeworfen. Die hochgekrempelten Ärmel entblößten kräftige Unterarme, deren feine Härchen sich in der morgendlichen Kälte aufgestellt hatten. Aus jeder seiner Bewegungen sprach lässige Arroganz.
Der Junge in seinem Versteck presste sich die Hand vor den Mund, um zu verhindern, dass sein Atem, der in hektischen Stößen aus seinem Körper entwich, als verräterischer Nebel in die kalte Luft stieg.
Der Löwe hob leicht den Kopf und einen Herzschlag lang weiteten sich seine Nüstern, als hätte er etwas gewittert. Dann zuckte sein Kopf herum und der Junge erstarrte.
Doch es war das Geräusch donnernder Hufe, das die Aufmerksamkeit des Mannes erregt hatte.
Das Pferd näherte sich in schnellem Trab und als es die Lichtung erreicht hatte, glitt sein Reiter in einer flüssigen Bewegung aus dem Sattel.
Der Junge spürte eine plötzliche Kälte, die über seinen Körper kroch und nichts mit der kühlen Luft des Morgens zu tun hatte.
*
1
Prag, im Frühsommer 1894
Rose betupfte sich die Stirn mit dem Tuch aus gestärktem Leinen, das das aufgestickte Monogramm der Whitbys trug. Ihre Mutter Julienne warf ihr einen missbilligenden Blick zu.
»Was tust du da, Rose?«, zischte sie ihr zu. »Das ist ein Tischläufer, kein Taschentuch. Was sollen die Leute nur von dir denken?«
Rose sah sich demonstrativ in dem weitläufigen Salon um, der bis zum Bersten mit Menschen gefüllt war, die sich um den aufgebahrten Toten versammelt hatten. Der Ansturm der Beileidsbekundungen war versiegt und niemand schenkte Rose, die in ihrem Kleid aus schwerem Samt auf geradezu unanständige Weise schwitzte, auch nur die geringste Beachtung.
»Ich weiß nicht, warum du überhaupt auf einer so öffentlichen Beerdigungsfeier bestanden hast«, sagte sie zu ihrer Mutter, die mit würdevoller Miene und kerzengeradem Rücken auf ihrem Stuhl thronte, als wäre sie Königin Victoria höchstpersönlich. »Vater hätte sicher nicht so begafft werden wollen.«
»Was dein Vater wollte, ist in dieser Angelegenheit nebensächlich«, erwiderte Julienne, ohne eine Miene zu verziehen. »Der Beerdigungsritus ist für die Hinterbliebenen, nicht für die Toten. Mag sein, dass Alexander nie viel für gesellschaftliche Gepflogenheiten übrighatte, aber ich finde sie überaus tröstlich, gerade in schweren Zeiten.«
Missmutig befingerte Rose die schwarzen Schleifen der Trauerkränze, die sich vor ihr auf dem Tisch türmten. Das süßliche Aroma der unzähligen Blumengestecke erfüllte den Raum und sie hatte das Gefühl, gleich niesen zu müssen.
Es gelang ihr nicht, zwischen den versammelten Beerdigungsgästen und den vielen Blumen einen Blick auf den Sarg ihres Vaters zu erhaschen.
»Hör auf, dir den Kopf zu verrenken, Rose«, ermahnte ihre Mutter sie erneut. »Bevor die Gäste kamen, hattest du weiß Gott genug Zeit, dich zu verabschieden, aber du hast dich ja lieber in deinem Zimmer verkrochen.«
Weil ich nicht mit rot geweinten Augen und aufgequollenem Gesicht nach unten kommen wollte, dachte Rose. Weil Vater mir stets eingeschärft hat, stark zu bleiben.
Immerhin hatte sie es geschafft, die Predigt des anglikanischen Pfarrers, der eigens aus London angereist war, ohne weitere Tränen zu überstehen. Es war merkwürdig gewesen, mitten in ihrem Salon einer Predigt zu lauschen. Der Pfarrer stand genau dort, wo ihr Vater noch vor wenigen Tagen in seinem Lieblingssessel Zigarren geraucht und Portwein getrunken hatte. Bevor der Herzinfarkt seinem Leben ein jähes Ende gesetzt hatte.
Er hätte die Predigt mit seinem heiseren, bellenden Lachen quittiert. »Ich war zeitlebens ein Sünder«, hätte er gesagt, »und kein Pfaffengeschwätz der Welt kann daran etwas ändern.«
Rose beobachtete, wie die Menschenmenge sich schließlich teilte, die Sargträger Position bezogen und der Wein herumgereicht wurde. Dankbar umschloss sie ihr Glas mit beiden Händen und atmete den würzigen Duft ein, der von der dunkelroten Flüssigkeit aufstieg. Nelken, Muskatblüten und Zimt. Doch den traditionellen Kuchen mit Mandeln und Rosenwasser lehnte sie mit einem Kopfschütteln ab. Ihr war nicht nach Essen zumute.
Nun war da niemand mehr, mit dem sie bis Mitternacht im Studierzimmer Schach spielen konnte. Niemand, der mit ihr ausgiebig über Politik diskutierte und ein Auge zudrückte, wenn sie sich einen Fingerbreit von seinem besten Whiskey einschenkte. Niemand, der das Schweigen zwischen ihr und ihrer Mutter füllte.
Rose wurde aus ihren Gedanken gerissen, als Julienne sie beim Arm nahm und sich erhob.
»Zeit für die Prozession«, murmelte sie und zog Rose mit sich.
In gemessenem Tempo folgten sie den Sargträgern nach unten auf die Celetná, wo zwei prächtige schwarze Kutschen im Schatten der hohen Häuser warteten.
Rose versuchte, das Kratzen des Trauerflors an ihrem Kragen und ihren Ärmeln zu ignorieren, das immer unerträglicher wurde. Als der Sarg feierlich in die mit Blumen geschmückte Kutsche gehoben wurde und sie ihrer Mutter die Stufen der zweiten Kutsche hinauf folgte, schwor sich Rose, ihre eigene, ganz private Trauerfeier abzuhalten, heute Nacht im Studierzimmer ihres Vaters mit dem Whiskey, den er für besondere Gelegenheiten in dem Geheimfach seines Regals aufbewahrte.
Sie würde sich auf gebührende Weise von ihm verabschieden, dachte sie und lächelte grimmig.
*
2
Rose ging auf Strümpfen die dunkle Treppe hinunter. Ihre neuen schwarzen Schuhe mit der Satinschleife und der Perlenstickerei, die sie den ganzen Tag über getragen hatte, waren zwar hübsch, drückten aber entsetzlich. Sie hatte ihr Samtkleid gegen ein einfaches schwarzes Hauskleid eingetauscht, das sie ohne Hilfe an- und ausziehen konnte. Und das musste sie auch, denn das Personal hatte den Abend anlässlich der Beerdigung frei.
Ihre Füße sanken in den tiefen Teppich ein und kein Laut ertönte, als Rose über den langen Korridor ging. In dem großen, prunkvollen Haus war endlich Ruhe eingekehrt und nur der Duft von Nelken hing noch schwach in der Luft. Rose wollte sich gerade nach rechts wenden, da sah sie, dass in einem der Salons Licht brannte.
Als sie durch die Tür lugte, sah sie ihre Mutter, die im Schein einer tragbaren Lampe an einem Tisch saß.
»Mama?«, fragte Rose besorgt und Julienne schreckte hoch.
Sie wirkte kleiner, zusammengesunkener, als wäre die Energie verpufft, die sie den Tag über aufrechterhalten hatte. Geistesabwesend nahm sie ihren Zwicker ab und winkte Rose zu sich.
»Ich habe einen Brief von Patricia erhalten, der Schwester deines Vaters«, sagte sie mit müder Stimme. »Nachdem sie sich nicht die Mühe gemacht hat, zur Beerdigung zu erscheinen, ist sie unverfroren genug, mir das hier zu schreiben.« Sie seufzte und schob Rose den Brief zu.
Rose studierte das Schreiben mit zusammengekniffenen Augen. Dann ließ sie es sinken und sah ihre Mutter an, deren Haut im gelben Halblicht fahl und wächsern wirkte.
»Klingt doch gar nicht so schlimm. Sie lädt mich zu sich nach England ein, um mir zu zeigen, wo Vater aufgewachsen ist«, sagte Rose behutsam. Sie war noch nie in England gewesen und kannte ihre exzentrische Tante nur aus Erzählungen.
Julienne stieß ein spitzes Lachen aus. »Es war ein Fehler von deinem Vater, ihr das Londoner Haus zu überlassen«, sagte sie. »Patricia hatte nie ein gutes Wort über ihn zu verlieren. Ich wette, dass die Hälfte der niederträchtigen Gerüchte, die über Alexander im Umlauf waren, von ihr stammte.«
Rose bezweifelte das. Sie kannte die wilden Geschichten, die ihr Vater gern zum Besten gegeben hatte. Die meisten drehten sich um seine Jugend, in der er die Londoner Klubs und Theater unsicher gemacht hatte. Ihrer Meinung nach hatte er sich seinen Ruf als Salonlöwe redlich verdient. Aber das sagte sie nicht, sondern nickte nur mitfühlend.
»Du solltest schlafen gehen, Mama. Es war ein langer Tag.«
Julienne Whitby seufzte und erhob sich langsam. Einen Moment lang schien sie zu wanken und als Rose helfend eine Hand ausstreckte, trafen sich ihre Blicke. Sie hatte das unbestimmte Gefühl, dass ihre Mutter noch etwas sagen wollte, doch einen Herzschlag später schüttelte sie Rose’ Hand ab.
»Wir stehen das durch, du und ich«, murmelte Julienne und straffte die Schultern. »Wir bleiben stark.«
Sie wandte sich ab und ging mit staksenden Schritten davon, während der Schein ihrer Öllampe kleiner und kleiner wurde.
Rose verharrte reglos in dem dunklen Salon und dachte nach. Da war es wieder. Stark bleiben. Auch ihr Vater hatte ihr das stets eingeschärft. Aber sie hatte den Verdacht, dass das, was ihre Eltern als Stärke bezeichneten, in Wahrheit Sturheit war. Und dass sie diese Sturheit geerbt hatte – nun, daran bestand kein Zweifel.
*
Das Gas flammte auf und tauchte das Studierzimmer ihres Vaters in flackerndes Licht. Mit flinken Fingern drehte Rose am Regler der Wandlampe, bis ein warmer, gleichmäßiger Schein den Raum erfüllte.
Es roch nach poliertem Holz und den kubanischen Partagás-Zigarren, die ihr Vater so gern geraucht hatte. Obwohl sie sich stets über den Gestank beschwert hatte, traf die Erinnerung sie wie ein Schlag, als sie tief einatmete.
Sie rückte den niedrigen Tisch beiseite, auf dem noch ein angefangenes Schachspiel stand, dann rollte sie sich auf dem Sofa zusammen und legte den Kopf auf die weichen Kissen.
In diesem Raum war die Anwesenheit ihres Vaters so deutlich zu spüren wie nirgends sonst. Sie erwartete beinahe, dass er jeden Moment eintreten würde und alles wieder wäre wie zuvor.
Aber das war unmöglich.
Außerdem regte sich ein schwer zu benennendes Gefühl in ihr, das sie dazu bewegte, sich aufzusetzen. Ihr Blick fiel auf das angefangene Schachspiel und sie fegte es mit einer wütenden Handbewegung zu Boden.
»Ich hätte die Partie sowieso gewonnen«, sagte sie laut in den Raum hinein und blinzelte heftig.
Mit einem tiefen Atemzug stand sie auf und trat vor das Bücherregal. Ihr Vater hatte ihr gezeigt, wie sie das Holz abtasten musste, um die kleine Stelle zu finden, auf die sie den Finger pressen musste. Ein Teil der Rückwand glitt geräuschlos zur Seite und offenbarte das Geheimfach, gerade groß genug für die Whiskeyflasche und die Kristallkaraffe mit zwei Gläsern, die sich darin befanden. Einen Moment lang hoffte Rose auf irgendeine Botschaft ihres Vaters, einen letzten Brief oder etwas dergleichen, aber da war nichts. Natürlich nicht, er hatte ja nicht ahnen können, dass er sein sechzigstes Lebensjahr nicht vollenden würde.
Sie goss zwei Fingerbreit der goldenen Flüssigkeit in eines der Gläser und erhob es wie zum Gruß. Der Whiskey schmeckte ein wenig nach Asche und brannte leicht in der Kehle, ein seltsam tröstliches Gefühl. Als sie die Flasche mit mehr Kraft als nötig wieder in das Fach stellte, klang es merkwürdig hohl.
Mit klopfendem Herzen stellte sie sich auf die Zehenspitzen und versuchte, etwas in dem Geheimfach zu erkennen, aber sie war nicht groß genug, um die Rückwand zu erreichen. Mit den Fingern tastete sie herum, spürte aber nur glattes Holz. Enttäuscht ließ sie sich wieder auf die Fersen sinken. Doch der Gedanke ließ sie nicht los. Gab es ein zweites Geheimfach?
Das würde Vater ähnlichsehen, dachte sie und musste unwillkürlich lächeln. Der alte Gauner hatte Geheimnisse geliebt. Sie drehte die Gaslampe heller, zog den niedrigen Tisch heran, auf dem das Schachspiel gestanden hatte, und kletterte darauf. Nun konnte sie das Fach genauer untersuchen. Sie klopfte erneut gegen die Unterseite. Ja, das klang eindeutig hohl. Und vielleicht täuschte das gelbe Licht ihre Augen, aber war der Boden des Fachs nicht eine Spur dunkler als das umgebende Holz?
Aber weder Klopfen noch Tasten oder Drücken offenbarten einen verborgenen Mechanismus.
Rose seufzte enttäuscht.
Dann fiel ihr Blick auf die kleine, kaum erkennbare Rille an den Rändern des Fachs. Mit gerunzelter Stirn zog sie einen Haarkamm aus ihrer Frisur, schob ihn in die Rille und stocherte darin herum.
Sie spürte, wie etwas nachgab, nur um einen Millimeter, aber das reichte ihr. Der Boden, davon war sie nun überzeugt, war kein Boden, sondern eine Art Kästchen, das perfekt in das Fach passte. Sie nahm eine Haarnadel zu Hilfe und schaffte es, das Kästchen so weit anzuheben, dass sie es mit den Fingerspitzen der einen Hand greifen konnte.
Ihr Herz klopfte, als sie es auf den Tisch legte. Es war nicht größer als eine der alten ledergebundenen Ausgaben der Encyclopædia Britannica im Regal und in etwa genauso schwer. Es hatte keine sichtbaren Scharniere, aber mit einem leichten Ziehen ließ sich der Deckel problemlos heben.
Rose starrte lange auf das, was sich darin befand. Ein kleines ledergebundenes Buch mit Gedichten eines namenlosen Poeten, ein braunes Fläschchen, einige alte Wertpapiere längst untergegangener Banken und Schifffahrtsunternehmen, Tabakkrümel und ein paar englische Sixpence-Münzen.
Kein Brief, keine geheime Botschaft. Nur vergessener Tand, der um des Versteckens willen versteckt worden war.
Was für eine Enttäuschung.
*
3
Rose lag voll bekleidet im Bett und starrte an die Decke, während draußen dunkle Wolken über den Himmel jagten und der in Strömen fallende Regen die goldenen Dächer Prags in graue Ödnis verwandelte.
Das Wetter passte ausgezeichnet zu ihrer Stimmung. Nach dem Ankleiden hatte sie sich gezwungen, gemeinsam mit ihrer Mutter im Morgensalon Tee zu trinken und lustlos die Zeitung durchzublättern. Danach hatte Julienne verkündet, dass sie einige Erledigungen in der Stadt zu machen habe.
Rose hatte nur genickt und ihren kaltgewordenen Tee umgerührt. Irgendwann hatte sie es nicht mehr im Morgensalon ausgehalten, und auch nicht im großen Wohnzimmer, dem Speisesaal, dem Billardzimmer oder der Bibliothek. Sie war nach oben in ihr Zimmer gegangen, hatte sich aufs Bett geworfen und sich seitdem nicht mehr bewegt.
Schließlich wanderte ihre Hand wie von selbst zu dem Kästchen aus dem Geheimfach, das auf ihrem Nachttisch lag. Das glatte Holz duftete nach Zedern, als sei es vor nicht allzu langer Zeit poliert worden. Merkwürdig, denn sein zusammengewürfelter Inhalt machte keinen wichtigen Eindruck. Oder doch?
Mit einem Ächzen richtete sie sich auf, schwang die Beine über die Bettkante und nahm das Kästchen auf den Schoß. Auch auf den zweiten Blick schien sein Inhalt nicht interessanter zu werden. Methodisch legte sie alles einzeln aufs Bett.
Ein dünnes Buch, in dunkelrotes Leder gebunden, ohne Prägung auf dem Einband.
Ein dunkelbraunes Glasfläschchen, halbvoll, das die verblichene Aufschrift »Mecon« trug.
Ein inzwischen wertloser Stapel englischer Aktienpapiere. Rose hatte am vergangenen Abend in der Encyclopædia Britannica nachgesehen, für den Fall, dass sie auf einen Schatz gestoßen war, aber das Ergebnis war enttäuschend: Keine einzige der Firmen hatte den verheerenden Börsenkrach von 1873 überstanden.
Die Tabakkrümel am Boden des Kästchens fegte Rose beiseite und ließ die silbernen Sixpence-Münzen in ihre Hand fallen, die Königin Victorias strenges Profil zeigten. Laut Prägung stammten sie von 1873. Das war einundzwanzig Jahre her und Rose fiel kein nennenswertes Ereignis aus diesem Jahr ein, von ihrer eigenen Geburt einmal abgesehen.
Das Einzige, was möglicherweise interessant war, war das Buch. Beim Durchblättern hatte Rose gesehen, dass es Gedichte enthielt. Nun nahm sie es erneut zur Hand und untersuchte es. Die dicken, cremefarbenen Seiten waren von Hand mit festem Garn vernäht. Der rote Ledereinband war geschmeidig und vollkommen schlicht. Es sah nicht aus wie eine Verlagspublikation, eher wie der selbstgedruckte Band eines Poeten. Rose schlug die erste Seite auf und las:
Graue Luft dringt aus metallnen Rohren,
Mondebenen, so weit das Auge reicht.
Ein Heimgekehrter steht vor rostgen Toren,
papiern sein Blick, die Augen ausgebleicht
erahnen unter Aschesand verlorne
Visionen einer prächtigeren Zeit.
Fasziniert blätterte sie weiter.
In den graphitdunklen Rauch sind sie gewirkt,
goldrote Strahlen, ein Sonnengeflecht,
der Käfig der Stadt aus Flammenschnüren,
festgezurrt die schwere Luft im Rausch.
Was hatte es mit diesen Gedichten auf sich? Nirgends stand der Name eines Verfassers. Stammten sie womöglich von ihrem Vater selbst? Es fiel ihr schwer, sich ihn als den heimlichen Verfasser dieser Gedichte vorzustellen, obwohl er leidenschaftlich gern las und seine Bibliothek mit unzähligen Romanen und Lyrikbänden gefüllt hatte.
Flüchtig dachte sie an einige Begebenheiten, bei denen er etwas, das er gerade schrieb, hastig mit Löschpapier bedeckte, sobald sie den Raum betrat. Hatte er heimlich Gedichte verfasst?
Sie blätterte weiter und stutzte, als sie ein zusammengefaltetes Papier zwischen den Seiten entdeckte. Es war ein Brief, doch nicht in der vertrauten gleichmäßigen Handschrift ihres Vaters. Die Buchstaben waren spitzer, energischer und von eiligen Tintenklecksen umgeben. Auf den kurzen Inhalt konnte sie sich keinen Reim machen:
Leider muss ich Ihr überaus großzügiges Angebot ablehnen, Mr Whitby. Behalten Sie dieses Buch, ich will es nicht zurück. Betrachten Sie es als Erinnerung an das, was ich Ihnen zu verdanken habe.
Was hatte das zu bedeuten? Außer dieser kryptischen Nachricht enthielt der Brief nichts, weder einen Absender noch eine Adresse.
Sie schüttelte das Buch sanft, fand aber keine weiteren losen Blätter.
Anscheinend hatte der Verfasser des Briefes ihrem Vater das Buch als Dank für einen Gefallen überlassen. Irgendeine besondere Bedeutung musste es im Gegensatz zu dem anderen Tand in dem Kästchen haben, warum sonst hätte er es versteckt, anstatt es ins Regal zu stellen?
Rose seufzte. Suchte sie nach Sinn, wo in Wahrheit keiner war? Sie ließ ihre Augen wieder über die Gedichte schweifen. Nach und nach verlor sie sich in den Zeilen und merkte kaum, wie es draußen immer dunkler wurde.
Der Regen verwandelte die Kupferrinnen der Dächer in kleine Sturzbäche, floss an den schmiedeeisernen Fensterstreben hinab und ließ die Moldau unter der wenige Minuten entfernten Karlsbrücke anschwellen.
Der bleigraue Himmel schien sich tief über der Altstadt zusammenzuziehen und Blitze erblühten über den hohen Giebeln, noch ehe der erste Donnerschlag ertönte.
*
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